Warum ein BGH-Beschluss ein Angriff auf den freien Diskurs ist
Wer in Deutschland heute drastische Vergleiche zieht, läuft Gefahr, sich strafbar zu machen. Das zeigt ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 4. Februar 2025 (Az. 3 StR 468/24). Konkret ging es um ein Meme auf Facebook, das das Eingangstor eines Konzentrationslagers zeigte – versehen mit dem Schriftzug „Impfen macht frei“. Übertrieben? Sicher. Aber reicht das für eine Verurteilung wegen Volksverhetzung?
Ein genauer Blick auf die Entscheidung und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) offenbart: Hier verlässt der BGH gefährlich den Boden eines liberalen Rechtsstaats.
Was der BGH entschieden hat
Kurz zusammengefasst: Der BGH bestätigte die Verurteilung eines Facebook-Nutzers zu einer Geldstrafe, weil er mit dem Meme den Holocaust angeblich verharmlost und den öffentlichen Frieden gefährdet habe. Das Gericht stützte sich auf § 130 Abs. 3 StGB – also die Strafbarkeit der Verharmlosung von NS-Verbrechen.
Zentral waren zwei Argumentationsstränge:
- Der Holocaust werde relativiert, indem Corona-Maßnahmen mit Auschwitz verglichen würden.
- Die Veröffentlichung sei geeignet, sowohl Impfgegner zu gewalttätigen Aktionen anzustacheln als auch Holocaust-Überlebende einzuschüchtern.
Klingt dramatisch – doch ein Blick auf die tatsächliche Begründung zeigt, dass hier mehr spekuliert als bewiesen wird.
Was der EGMR zur Meinungsfreiheit sagt
Die europäische Rechtsprechung zieht klare Grenzen, wenn es um die Einschränkung der Meinungsfreiheit geht.
Bereits im Grundsatzurteil Handyside v. United Kingdom (1976) stellte der EGMR klar: Meinungsfreiheit schützt nicht nur brave und höfliche Äußerungen, sondern ausdrücklich auch solche, die „beleidigen, schockieren oder beunruhigen“. Gerade darin liegt ihr demokratischer Wert.
Im Fall Perinçek v. Switzerland (2015) entschied der Gerichtshof zudem, dass selbst kontroverse Aussagen über Völkermorde nur dann strafrechtlich verfolgt werden dürfen, wenn ein „dringendes soziales Bedürfnis“ nachgewiesen wird – nicht bloß ein hypothetisches Risiko.
Auch in Vajnai v. Hungary (2008) stellte der EGMR klar: Symbole oder Vergleiche dürfen nicht pauschal verboten werden. Strafrecht darf nur greifen, wenn konkrete Gefahren für den öffentlichen Frieden bestehen.
Und im Fall Otegi Mondragón v. Spain (2011) betonte der Gerichtshof noch einmal: Politische Rede steht unter einem besonders strengen Schutz. Einschränkungen sind nur in extremen Ausnahmefällen zulässig.
Vergleicht man diese Maßstäbe mit dem BGH-Beschluss, wird klar: Die deutschen Richter haben eine extrem weite, grundrechtsfeindliche Linie gezogen.
Wo der BGH den liberalen Rechtsstaat verlässt
Dehnung des Tatbestands
Nach dem BGH reicht es bereits, wenn ein Vergleich möglicherweise den Holocaust relativiert. Ob die Darstellung tatsächlich eine Verharmlosung bezweckt oder so verstanden wird, spielt keine Rolle mehr. Damit wird der Schutzbereich der Meinungsfreiheit drastisch verkürzt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt eigentlich, mehrdeutige Äußerungen grundrechtsfreundlich zu interpretieren. Der BGH ignoriert dieses Gebot komplett und wählt systematisch die strafschärfendste Lesart.
Hypothetische Friedensstörung
Ein weiteres Problem: Das Gericht stützt sich auf die bloße Möglichkeit, dass das Meme aggressives Verhalten von „Impfgegnern“ fördern könnte. Aber es gibt keine Beweise, keine Statistiken, keine konkreten Anhaltspunkte. Der EGMR verlangt für Eingriffe in die Meinungsfreiheit jedoch handfeste Tatsachen: „Relevante und ausreichende Gründe“ müssen vorliegen. Das Urteil des BGH basiert hingegen auf Konjunktiven und Spekulationen.
Noch gravierender ist jedoch eine Passage, in der das Gericht behauptet, das Meme könne das „Sicherheitsgefühl von Holocaustüberlebenden“ beeinträchtigen – und dadurch antisemitische Übergriffe wahrscheinlicher machen. Wörtlich heißt es, die Darstellung degradiere den Holocaust „zu einem austauschbaren Vergleichsobjekt“ und senke dadurch „Hemmschwellen gegen antisemitische Übergriffe“.
Das ist nicht nur spekulativ – es ist paradox. Denn genau diese Logik führt in Wahrheit zur Verdrängung: Wenn der NS-Völkermord nur noch in einem eng abgesteckten Gedenkraum denkbar ist, wird jeder warnende Vergleich zum Tabubruch. Damit delegitimiert das Urteil jegliche politische Wachsamkeit, die sich – völlig zu Recht – auf historische Erfahrungen bezieht.
Der fatale Umkehrschluss lautet: Wer frühzeitig warnt, relativiert. Wer Übergriffe verhindern will, gefährdet den Frieden. Und wer Parallelen benennt – auch überspitzt – stellt sich außerhalb des Rechts.
Das ist eine gefährliche Entwicklung: Denn eine Gesellschaft, in der niemand mehr laut sagt „Wehret den Anfängen“, weil er die Justiz fürchtet, verliert genau jene Alarmmechanismen, die Minderheiten effektiv schützen könnten.
Die wahre Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland ist nicht, dass Menschen drastische Warnungen aussprechen – sondern dass sie es nicht mehr tun dürfen. Eine Zivilgesellschaft, die zum Schweigen gezwungen wird, weil der Staat ihre Kritik kriminalisiert, schafft genau jene Atmosphäre, in der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung wieder möglich werden.
Die Botschaft dieses Urteils darf niemals zur Rechtsnorm werden. Wer Menschenrechte ernst nimmt, muss das Gegenteil verteidigen: das Recht, zu übertreiben, zu warnen, zu provozieren – auch dann, wenn es unbequem ist.
Unterschätzte Folgen für die Gesellschaft
Selbst wenn die Strafe „nur“ 4.000 Euro beträgt: Die eigentliche Gefahr liegt im Präzedenzfall. Wer historische Vergleiche wagt, riskiert künftig strafrechtliche Verfolgung. Das führt zu einem sogenannten „chilling effect“ – Menschen werden sich aus Angst vor Strafe nicht mehr frei äußern. Damit wird die offene demokratische Debatte massiv beschädigt.
Totalitäre Signale im Beschluss
Der Beschluss weist bedenkliche Züge auf, die man in einem liberalen Rechtsstaat eigentlich nicht erwarten würde:
- Dogmatisierung der Geschichte: Der Staat legt verbindlich fest, wie der Holocaust öffentlich darzustellen ist und welche Handlungen unter dieser Erfahrung mit „Wehret den Anfängen“ kritisiert werden dürfen. Abweichungen werden kriminalisiert.
- Strafbarkeit von Emotionen: Es genügt, wenn eine Äußerung „emotionalisierend“ wirkt. Das öffnet Tür und Tor für Gesinnungsstrafrecht.
- Aufbau von Strohmännern: Das Gericht behauptet, durch die Darstellung von Bill Gates werde antisemitische Verschwörungstheorie verbreitet.Gates ist offenkundig nicht jüdisch. Die Antisemitismus-Folgerung wird konstruiert, um den Vorwurf zu dramatisieren.
Damit verlässt der BGH die Linie eines Rechtsstaats, der freie Meinungsäußerung als Fundament betrachtet, und nähert sich gefährlich der Logik autoritärer Systeme an.
Was jetzt geschehen sollte
Dieses Urteil darf nicht das letzte Wort sein. Es braucht:
- Eine Verfassungsbeschwerde, die den Fall auf den Tisch des Bundesverfassungsgerichts bringt erforderlichenfalls auch zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
- Eine Debatte über die Grenzen von § 130 StGB, um reine Geschmacklosigkeit von echter Volksverhetzung klar abzugrenzen.
- Eine gesellschaftliche Kultur, die heftige politische Äußerungen nicht strafrechtlich bekämpft, sondern mit Argumenten entlarvt.
- Eine Strafanzeige gegen die Richter am BGH wegen Verfolgung im Sinne des Art. 7 Internationales Römisches Statut
Indem der BGH auf die Prognosen und Spekulationen seiner Richter baut, zieht er den Strafrahmen weit auf und verlässt die schmale Brücke zwischen notwendigem Stop aufrührerischer Volksverhetzung und Meinungsfreiheit. Genau an dieser Stelle schimmern totalitäre Züge nicht mehr nur durch: Der Staat beansprucht Deutungshoheit über Geschichte, Emotionen und zulässige Rhetorik – und das ist brandgefährlich für einen offenen Diskurs.
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